„Ach Europa!“

Kommentar

Europa könnte eine wichtige Rolle spielen, nach Innen und Außen Solidarität beweisen, eine umfassender wertebezogene Außenpolitik umsetzen und globale Weitsicht und Verantwortung zeigen.

Europa

Immer wieder hakt es in Europa. Und auch gerade jetzt wieder, wenn Solidarität unter den Mitgliedern gefragt ist und mit dem Brexit erste Auflösungserscheinungen am gemeinsamen Gerüst nagen. Der vielbeschworene „europäische Geist“ hat sich schon so manche Male verflüchtigt, und jetzt da die Krise uns alle erreicht hat, scheint Europa fast irrelevant.

Die Mitgliedsländer, getrieben von ihren einheimischen Virologen, ziehen sich ins Nationale zurück. Grenzen werden geschlossen und von Nation zu Nation unterschiedliche Maßnahmen empfohlen bis befohlen.

Mit den Ausgangssperren ändern sich die Blickrichtungen, und diese scheinen schlagartig in die kleinste räumliche und gesellschaftliche Zelle verschoben. Die Berliner Tageszeitung zeigt auf, wie viele Infektionen in welchem Stadtteil verzeichnet werden. Vor den Lebensmittelläden und Bäckereien eines jeden Viertels wird der Hamsterkauf zum Ärgernis und der 1,5 m Abstand in der Schlange zum Symbol bürgerlichen Gehorsams.

Italien im Stich gelassen

Dabei verliert man aus dem Blick, dass in dem Land, in das man ach so gern gereist ist und in dem jetzt das eigene Ferienhaus leersteht, augenblicklich eine der höchsten Infektionsraten weltweit herrscht und die ohnehin geschwächte Wirtschaft zusammenbrechen wird. Wo ist Europa, wenn es gilt, Italien zu helfen? In der Wahrnehmung der Italienerinnen und Italiener hat sich das Bild verfestigt, dass das Land in der schwersten Krise von seinen Partnern in Europa schmälich im Stich gelassen wurde. „Wir merken uns das“, schrieb Gianluca Di Feo, stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung „La Repubblica“, in einem Leitartikel vor einiger Zeit.

Auch in Spanien wird nicht die EU als Helfer in der Not wahrgenommen sondern China, das Land aus dem massiv Hilfsgüter vor allem für die medizinische Versorgung angeflogen kommen.

Die ohnehin obszönen wirtschaftlichen Ungleichheiten innerhalb der EU werden in der Krise weiter totgeschwiegen, da jetzt jeder sich selbst der Nächste sein will. Aber wird die EU noch sein was sie war, wenn der Virus erledigt wurde?

Grenzen wie Mauern hochgezogen

Grade noch wurde Griechenland dafür gelobt, dass es „unsere“ Grenze verteidigt - eine der Außengrenzen der EU, und gegen Menschen wohlgemerkt, die aus dem Elend der Herkunftsländer Syrien oder Afghanistan in der Gemeinschaft Schutz oder ein besseres Leben suchten - da wurden schlagartig innerhalb der EU wieder Grenzen wie Mauern hochgezogen und das Schengensystem ausgesetzt. Die junge Polin, die in Brandenburg im Hotel-Service tätig ist und nach Dienstschluss am Freitagabend nicht mehr über die Grenze kam, der im Berliner Schlachthof arbeitende Bulgare, der von der Heimat abgetrennt bleibt, der junge spanische Student, der in Freiburg ausharrt und nicht an der Beerdigung seines Onkels in Madrid teilnehmen kann.

Dass offene Grenzen die Versorgungsketten gewährleisten, wurde hier und da plötzlich gewahr, und manch Deutscher bangt angesichts mangelnder Saisonarbeiter aus dem Ausland um die angemessene Spargelration auf dem eigenen Teller. Doch wer macht sich jetzt bewusst, dass die Lebensmittelversorgung Europas vielfach zu den uns gewohnten Preisen nur dadurch möglich ist, dass angeworbene Pakistani, Inder, Bangladeschi und andere die Tomaten pflücken und den Parmigiano herstellen, oder eben Bulgaren und Rumänen die Tiere schlachten, die als Grillfleisch in den Lidl- und Aldi-Theken feilgeboten werden. Wo sind diese Menschen jetzt und wie werden sie eigentlich versorgt?

Solidarität - menschlich und praktisch

Diejenigen, die nicht angeworben wurden und trotzdem kamen als Flüchtlinge und Migrant*innen, sitzen in überfüllten Lagern in Moria und anderswo auf den griechischen Inseln, im gedrängten „Dschungel“ in Calais. Hilfsorganisationen und Freiwillige haben ihre Arbeit dort einstellen müssen. Der Virus macht nicht Halt vor diesen Menschen und verschärft die ohnehin unwürdigen Lebensbedingungen. Was soll man hier erwarten? Ein rationales Europa vielleicht, dass die schlimmsten Missstände in den Griff kriegt?

Es brauche nun einen „wahrhaft europäischen Geist menschlicher und praktischer Solidarität“, um diese beispiellose Krise gemeinsam zu überwinden, schreibt Bundespräsident Walter Steinmeier. Es gibt diese Solidarität noch, auch im Angesicht vieler kleingeistiger Reflexe.

„Alle Macht dem Virus“ titelte unlängst einer der Kritiker dieser Reflexe und wies zu Recht darauf hin, dass der Staat nicht Gesundheit oder öffentliche Ordnung gewährleisten kann, wenn die Gesellschaft nicht mittut.

Globale Weitsicht und Verantwortung

Was also, wenn die Gesellschaften Europas diesen größeren Geist einfordern und Einzelne selbst wieder zu denken beginnen, statt Kritik als spalterisch und gesundheitsgefährdend einzustufen? Wenn wir Exit- Strategien fordern, nicht nur aus dem wirtschaftlichen „Runterfahren“ sondern aus der Freiheitsbeschränkung und aus der verordneten Isolation, in der alte Menschen zu ungefragten Objekten besonderer Fürsorge werden, zugleich aber Obdachlose und Flüchtlinge völlig ausgeblendet sind?

Vielleicht schaffen wir es, den Blick dann auch über Europa hinaus zu werfen und uns endlich und deutlich gewahr zu werden, dass wir es mit einer globalen Krise zu tun haben, in der erst China weit weg erschien und jetzt omnipräsent. Eine globale Krise, in der autoritäre Staaten ihre Chance wittern, für ihr System zu werben und unliebsame Gegner auszuschalten.

Die Ausgangssperren anderswo auf der Welt treffen Menschen, die auf engstem Raum und ohne fließendes Wasser und sanitäre Einrichtungen, mitunter aber mit Erkrankungen wie HIV, Diabetis oder Tuberkolose leben. Da, wo die mageren Einkünfte ausgefallen sind, wird die Versorgung mit dem Notwendigsten für ganze Familien knapp. Die Gesundheitssysteme vieler Entwicklungsländer sind oftmals katastrophal und auf die in einigen Ländern bereits rapide ansteigenden Infektionsraten in keiner Weise vorbereitet.

Konflikte sind vorbestimmt, da wo militärisch durchgesetzte Ausgangssperren mit Versorgungsengpässen einhergehen und letztlich der Kampf um mangelnde Ressourcen so lebensgefährlich wird wie der Virus selbst.

Wirtschaftliche Folgen in Entwicklungsländern

Die wirtschaftlichen Folgen dieser Krise treffen die Ökonomien ganz unterschiedlich. Schon heute ist der Kapitalabfluss aus Entwicklungsländern dreimal so hoch wie in der Finanzkrise 2008.

Äthiopiens Premierminister Aby Ahmed hat die Staats- und Regierungschefs der G20 bereits aufgefordert, Afrika in der Corona Krise durch Schuldenerlass und Soforthilfen beizustehen, denn die Pandemie stelle „eine existentielle Bedrohung für die Wirtschaft afrikanischer Länder dar“. Tatsächlich hängt der Kontinent stark von Direktinvestitionen und Rohstoffexporten ab und wird so besonders von den globalen Folgen der Krise betroffen sein. Die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Afrika (ECA) warnt davor, dass die Krise das ohnehin stagnierende Wirtschaftswachstum sehr ernsthaft beeinträchtigen könnte. Afrikas Finanzminister beraten, aber über Mittel zur Abschwächung wirtschaftlicher Talfahrten wie Konjunkturprogramme verfügen sie nicht und werden vielfach vom Internationalen Währungsfond (IWF) verwehrt.

Bei den global zu schnürenden Hilfspakten wird es darauf ankommen, wie sie ausgestaltet werden. So appellierte der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guteres, die „Erholung dürfe nicht auf Kosten der Ärmsten gehen“.

Europa könnte eine wichtige Rolle spielen, nach Innen und Außen Solidarität beweisen, eine umfassender wertebezogene Außenpolitik umsetzen und globale Weitsicht und Verantwortung zeigen. Den Blick der europäischen Bürgerinnen und Bürger wieder über den „eigenen Tellerrand“ hinaus zu lenken, sollte nun auch Aufgabe der gewählten Vertreterinnen sein.